Investmentfonds.de
28.10.2021:
DPAM: Energieinflation entspricht etwa 100 Basispunkten an Zinserhöhungen
Köln, den 28.10.2021 (Investmentfonds.de) -
Peter De Coensel, Member of the
Management Board bei DPAM
Energieinflation entspricht etwa 100 Basispunkten
an Zinserhöhungen
EIN GORDISCHER KNOTEN
Die Zentralbanken der Industrieländer stehen vor dem
Problem eines ,gordischen Knotens'. Werden - oder
besser noch - können sie angesichts des stockenden
Realwachstums, der schlecht funktionierenden
Arbeitsmärkte und der anhaltenden hohen
Inflationswerte entschlossene politische Maßnahmen
ergreifen? Die globalen Anleihenmärkte verlieren
die Geduld und preisen die Anhebung der Leitzinsen
nun schon im Jahr 2022 ein. Verfrüht oder nicht?
Nimmt man die jüngsten Daten aus China und den USA
als Richtschnur, so ist das weltweite Realwachstum
im dritten Quartal auf annualisierte 3,2 % gesunken.
Das ist weit entfernt von den Schätzungen von fast
6 % für 2021, die Ende des zweiten Quartals oder
noch vor ein paar Wochen während der IWF-Tagung
in Washington DC kursierten.
Die Erwartungen kristallisieren sich auf ein
globales Realwachstum im vierten Quartal von 4,5 %
auf Jahresbasis heraus.
Die Engpässe in den Lieferketten sind hartnäckiger
als erwartet. Die wichtigsten Indikatoren, die es
zu beobachten gilt, sind die Lieferzeiten im
verarbeitenden Gewerbe und die Erzeugerpreisindizes.
Der von der Philadelphia Federal Reserve Bank
herausgegebene ,Business Outlook Survey Diffusion
Index on Delivery Times' liegt bei 32,2, was ein
Allzeithoch seit Mai 1968 darstellt. Die Erzeuger-
preisindizes in den USA, China und der EU verzeichnen
auf Jahressicht einen Anstieg von 11,8 %, 10,7 % und
13,4 %.
Den Unternehmen wird nichts anderes
übrigbleiben, als ihre Kunden mit verlängerten
Lieferzeiten, einer teilweisen Weitergabe der höheren
Produktionskosten oder einer Mischung aus beidem zu
konfrontieren. In einer Gesellschaft, die sich an die
Lieferung am nächsten Tag über E-Commerce-Plattformen
gewöhnt hat, stellt sich die Frage, ob wir den
Höhepunkt der Inflation bereits gesehen haben?
Nichtsdestotrotz scheint die Erholung der globalen
Produktion auf das Niveau vor der Covid-Krise mehr
Zeit in Anspruch zu nehmen, bis weit in das Jahr
2023 hinein. Hinsichtlich des Narrativs von
Problemen beim Nachholbedarf haben wir möglicherweise
den Knopf für den Schnellvorlauf zur Dämpfung der
Nachfrage gedrückt.
Die akute Verknappung auf den Energiemärkten wirkt
sich auf die ,Terms of Trade', die Angebots- und
Nachfragebedingungen sowie das globale
Produktionspotenzial aus. Da Energiekosten
einen immer größeren Anteil an der weltweiten
Bruttowertschöpfung ausmachen, werden Ersparnisse,
Investitionen und andere Verbrauchskategorien
einen Rückgang erleben.
Während ich vor ein paar Wochen noch eine
Wahrscheinlichkeit von 20 % für ein Stagflations-
szenario angesetzt hatte, bin ich hiervon
mittlerweile nicht mehr so überzeugt. Die Märkte
könnten sich zunehmend auf eine Stagflation im Jahr
2022 einstellen. Ein Grund zur Sorge sind die
Aussichten für das Wachstum in den Schwellenländern
im kommenden Jahr. Die Zentralbanken der Emerging
Markets verschärfen die Straffung der Leitzinsen.
Russland, Brasilien, die osteuropäischen Staaten,
Chile und andere Länder passen die Leitzinsen
aggressiv an, um Preissteigerungen einzudämmen
und die Inflationserwartungen wieder zu
stabilisieren.
Brasilien sticht hervor:
Die Zentralbank bereitet sich darauf vor, die
Zinsen in dieser Woche um 125 Basispunkte oder
mehr zu erhöhen, da die Inflation auf über 10 %
ansteigt und die Regierung Bolsonaro gleichzeitig
die Haushaltsbeschränkungen lockert.
Der brasilianische Präsident will seine Chancen
für eine Wiederwahl verbessern. Die Konsenszahlen
für das reale BIP-Wachstum Brasiliens im Jahr 2022
sind auf schwache 1,00 % gesunken. Eine Inversion
der Renditekurve in Landeswährung ist durchaus
möglich. Der IWF prognostiziert für das Jahr 2022
ein weltweites reales BIP-Wachstum von 4,9 %.
Sowohl die Volkswirtschaften der Industrieländer
als auch die der Schwellenländer werden sich
verbessern müssen, um dieses Ziel zu erreichen.
Auch die Arbeitsmärkte stehen vor großen
Herausforderungen. Die Erwerbsquoten stehen vor
erheblichen Erholungsproblemen. Die Diskrepanz
zwischen Angebot und Nachfrage weist infolge der
pandemiebedingten Regierungspolitik Bruchlinien
auf. Nach Angaben des ,Bureau of Labour Statistics
(BLS)' nehmen die Kündigungen in vielen Branchen zu.
Hierzu tragen die von den Regierungen an
Privathaushalte ausgestellten Pandemie-Schecks,
Mieterhöhungsstopps oder die Erlassung von
Studienkrediten bei. Man denke nur an die Engpässe
im Freizeit- und Gastgewerbe, aber auch an den
Mangel an LKW-Fahrern oder Arbeitskräften im
Gesundheitswesen. Infolgedessen steigen die Löhne
in den unteren Einkommensgruppen so schnell wie
seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Pandemie hat die
Art und Weise verändert, wie Menschen die Arbeit
wahrnehmen. Flexible Arbeitsmodelle sind eine
Antwort auf die Forderung nach einer besseren
Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Der derzeitige Rückgang der Erwerbsbeteiligung
könnte also nur vorübergehend sein. Vielleicht
wurde der Begriff "vorübergehend" fälschlicherweise
mit Inflation in Verbindung gebracht und hätte eher
in Bezug auf den aktuellen Mangel an Arbeitskräften
gelten sollen.
Damit kommen wir zu einer weiteren Unbekannten, mit
der die Zentralbanken der Industrieländer
konfrontiert sind, und zwar der künftige
Inflationspfad. Die marktbasierten Inflations-
erwartungen in den USA geben eine klare Antwort -
die allerdings zweigeteilt ist: Die US-Inflation
könnte längerfristig höher ausfallen und die
realen US-Renditen werden für eine längere Zeit
stark negativ sein.
Die 10-jährigen US-Inflationserwartungen beendeten
den letzten Freitag (24.10.21) bei 2,64 %. Der
höchste Stand der 10-jährigen Breakeven-Inflationsrate
wurde im März 2005 mit 2,71 % erreicht. Der
US-TIPS-Markt besteht seit 1997.
Die 2-Jahres-Inflationserwartungen in den USA schlossen
bei 3,07%, was einer 2-Jahres-Realrendite von -2,51%
gegenüber einer Nominalrendite von +0,56% (Januar 2024)
entspricht.
Die 10-jährigen Realrenditen schlossen bei -1,00%, was
einem Rückgang um 11 Basispunkte seit der FED-Sitzung
vom 22. September entspricht. Die 10-jährigen nominalen
Renditen stiegen seither um 34 Basispunkte (d.h. von
1,30% auf 1,64%). Die 30-jährigen Inflationserwartungen
lagen bei 2,41 %. Der Vergleich mit 2004/2005 zeigt
einen interessanten Unterschied, denn damals lag der
Höchststand bei 3,00 %! Dies sollte den
Offenmarktausschuss der US-Notenbank (FOMC) bei
seiner Sitzung am 3. November beruhigen. Zu erwarten
ist die Ankündigung eines kontingentbasierten Taperings.
In der vergangenen Woche dämpfte US-Notenbank-Präsident
Powell die steigenden Erwartungen einer
Leitzinsanpassung bereits im Sommer 2022. Der
Balanceakt für die Zentralbanken der Industrieländer
ist gewaltig. Die Energieinflation verschärft die
wirtschaftlichen Bedingungen. Beobachter gehen davon aus,
dass diese Realität etwa 100 Basispunkten an
Zinserhöhungen entspricht. In der Eurozone wird die
EZB das Risiko im März 2022 durch die Ankündigung einer
allmählichen Reduzierung der monatlichen PEPP-Käufe auf
das vorpandemische Niveau von 20 Mrd. Euro pro Monat
steuern bzw. reduzieren. Eine vorzeitige Rückkehr zu
einem Einlagensatz von 0,00 % im Jahr 2023 ist
wahrscheinlich, da dies die Kosten für den Bankensektor
begrenzen und potenzielle Gefahren an den Immobilien-
und Aktienmärkten auf dem Weg dorthin entschärfen würde.
Man kann zu dem Schluss kommen, dass sich die nominalen
Renditekurven der entwickelten Staaten aufgrund
widersprüchlicher Botschaften in den Bereichen
Realwachstum, Arbeitsmärkte und Erzeuger- bzw.
Verbraucherinflation abflachen. Wir befinden uns
in einer Phase, die sensibel auf politische Fehler
anspricht. Wer die Märkte aufmerksam verfolgt, stellt
fest, dass die implizite Volatilität der Renditen steigt.
Der ,Merrill Lynch Option Volatility Estimate (MOVE-Index)',
der auf der impliziten Volatilität von
1-Monats-Treasury-Optionen über die gesamte
US-Renditekurve basiert, ist auf 72 gestiegen. Der
langfristige Durchschnitt liegt bei 92. Die Angst vor
steigenden Renditen nimmt zu. Da aber dieser Index sowohl
Kauf- als auch Verkaufsoptionen umfasst, kann die
Entwicklung in beide Richtungen gehen. Tatsache ist,
dass die Nervosität an den Anleihenmärkten zunimmt.
Gleichzeitig schloss der VIX-Index als wichtigster
Angstindikator für Aktien bei 15,43 und damit deutlich
unter seinem längerfristigen Durchschnittswert von 19,6.
Die Aktienmärkte erfreuen sich einer weiteren
überdurchschnittlichen Gewinnsaison. Die Unternehmen
haben sich langfristige Finanzierungen auf historisch
niedrigem Niveau gesichert. Wie bei den Regierungen
werden sich die Auswirkungen steigender Zinsen auf
das Profil der Verschuldungskosten der Unternehmen
erst im Laufe eines kompletten Zins- und Kreditzyklus
bemerkbar machen. Beides muss erst noch beginnen.
Die Notenbanken der Industrieländer bevorzugen eine
gut geführte, langfristige Normalisierung der
Leitzinsen. Plötzliches und hektisches politisches
Verhalten, wie es im geldpolitischen Komitee der
Bank of England zu beobachten ist, sollte vermieden
werden. Ein aggressives Durchtrennen des
,gordischen Knotens' könnte die wirtschaftliche
Erholung zu früh in Richtung rezessionsähnlicher
Herausforderungen lenken.
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Quelle: Investmentfonds.de
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