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21.03.2022:
DPAM | DIE EUROPÄISCHE ABHÄNGIGKEIT VON RUSSISCHEM GAS UND DER 10-PUNKTE-PLAN DER IEA
Köln, den 21.03.2022 (Investmentfonds.de) -
Michael Oblin, Head of Fixed Income Buy-Side Research
DIE EUROPÄISCHE ABHÄNGIGKEIT VON RUSSISCHEM GAS UND DER
10-PUNKTE-PLAN DER IEA
Die Finanzmärkte, die europäischen Politiker und die Bürger in der EU
werden wegen der Gasabhängigkeit der Versorger und der damit verbundenen
Bedrohung durch die anhaltende Russland-Ukraine-Krise zunehmend nervös.
Die Abhängigkeit Europas von Gasimporten aus Russland wurde durch den
Einmarsch Russlands in die Ukraine noch deutlicher. Dies ist das perfekte
Beispiel für ein "Tail Risk". Die Abhängigkeit Europas von Gasimporten aus
einem politisch sensiblen Land wie Russland ist in der Tat nichts Neues.
Fortschritte auf dem Weg zu Europas Netto-Null-Ambitionen werden den
europäischen Gasverbrauch und die Importe mit der Zeit verringern. Die
heutige Krise wirft jedoch die konkrete Frage nach den derzeitigen Einfuhren
aus Russland auf und danach, was noch getan werden kann, um unsere
Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern.
Kurzfristig zeigt die Nutzung der russischen Erdgasressourcen als
wirtschaftliche und politische Waffe, dass Europa schnell handeln muss.
Der Kontinent muss sich auf einen Winter 2023 vorbereiten, in dem die
Gasversorgung mit großer Unsicherheit behaftet ist. Die EU arbeitet an
einem Plan, um den russischen Gasverbrauch im Jahr 2022 um etwa zwei
Drittel (rund 100 Mrd. m³) zu senken.
Der 10-Punkte-Plan der IEA
Kurz- bis mittelfristig und auf lange Sicht und angesichts der Liefermengen,
um die es geht, geht die Verringerung der Abhängigkeit der EU von russischem
Gas über die Suche nach alternativen Gaslieferquellen hinaus. Sie erstreckt
sich vielmehr auch auf den Einsatz von Alternativen zur Verwendung von Gas
in einer Reihe von Sektoren (darunter auch die Stromerzeugung).
Im März 2022 stellte die Internationale Energieagentur (IEA) einen
diesbezüglichen 10-Punkte-Plan vor:
Wichtig ist, dass diese vorgeschlagenen Maßnahmen vollständig mit dem
"Green Deal" und den Fit-for-55-Paketen der EU übereinstimmen und den
Weg für weitere Emissionssenkungen in den kommenden Jahren ebnen.
Die kombinierte Wirkung dieser Maßnahmen reduziert die europäische Gasnachfrage
um etwa 50 Mrd.m3 (d. h. ein Drittel des Verbrauchs im Jahr 2021).
In ihrer Analyse weist die IEA darauf hin, dass die EU noch andere Möglichkeiten
hat, falls die Abhängigkeit von russischem Gas noch schneller verringert werden
soll oder muss... aber diese Möglichkeiten sind mit erheblichen ökonomischen und
ökologischen Kompromissen verbunden. Die kurzfristig wichtigste Option würde
bedeuten, dass man bei der Stromerzeugung kein Gas mehr einsetzt und dafür
verstärkt auf die noch verbliebenen europäischen Kohlekraftwerke zurückgreift
oder bestehende Gaskraftwerke mit Öl betreibt (allerdings könnten auch die
Öllieferungen bei internationalen Sanktionen gegen russisches Öl unter Druck
geraten).
Kann Kohle russisches Gas ersetzen?
Die Beschaffung der Kohle wäre sowohl teuer als auch schwierig, dafür müsste
erstens die derzeit sinkende inländische europäische Produktion wieder
hochgefahren werden, zudem müsste auch das Wachstum in anderen wichtigen
Regionen deutlich zulegen. Wenn Europa Gas durch Kohle ersetzen will, dann
würden weitere 250 Millionen Tonnen (Mt) an zusätzlicher nicht-russischer Kohle
benötigt. Im Jahr 2020 wurden 970 Mt Kraftwerkskohle gehandelt, davon gingen
21 % nach China. Ein Nachfrageanstieg von 250 Mt ist ganz eindeutig erheblich.
Auf dem Weltmarkt herrscht nach wie vor Knappheit aufgrund mangelnder
Investitionen in den letzten zehn Jahren. Europa sähe sich auch in scharfem
Wettbewerb mit Japan und Südkorea. Beide Länder könnten unter ähnlichem Druck
stehen, durch eine Diversifizierung ihre Abhängigkeit von Russland zu verringern.
Mögliche Kohleexporteure sind beispielsweise Australien, Südafrika, Kolumbien
und die USA. Doch alle diese Länder können ihre Lieferungen kurzfristig nur
beschränkt erhöhen, die Lieferungen aus Australien werden beispielsweise durch
Überschwemmungen und Engpässe im Schienenverkehr erschwert. Da die Preise
steigen und da sich die Politik scheinbar hypothetisch wieder vom Kohleausstieg
verabschiedet, könnte es zu einer angebotsseitigen Reaktion der inländischen
Produzenten in Europa kommen. Es könnte allerdings einige Jahren dauern, bis
sich dies bemerkbar macht, da zuletzt nicht in neue Lieferkapazitäten investiert
wurde.
Und schließlich müssten die CO2-Märkte möglicherweise vorübergehend ausgesetzt
werden denn der erhöhte Verbrauch von Kohle würde Hand in Hand gehen mit einer
höheren CO2-Nachfrage und damit auch mit steigenden CO2-Preisen. Dies würde
somit dazu führen, dass wegen des Gasmangels die Strompreise steigen und
gleichzeitig auch die CO2-Preise nach oben tendieren, um den Verbrauch von Kohle
zu begrenzen.
Da diese Kohle-/Ölalternativen zu Gas nicht mit dem europäischen Grünen Deal im
Einklang stehen, sind sie im vorstehend beschriebenen 10-Punkte-Plan nicht
enthalten. Sowohl aus ökonomischer als auch aus ökologischer Sicht wären die
Kosten zweifellos hoch.
Kann Flüssiggas russisches Gas ersetzen?
Europa verfügt über eine hohe Zahl von Regasifizierungsanlagen, in denen
Flüssiggas (LNG) wieder in seinen ursprünglichen gasförmigen Zustand überführt
wird. Die größten Regasifizierungsanlagen befinden sich in Spanien, Großbritannien,
Italien, Frankreich und der Türkei. Diese Anlagen liefen 2021 mit etwa 45 % ihrer
Kapazität, in diesem Jahr importierte Europa 107 bcm Flüssiggas, davon 18 bcm aus
Russland. Insgesamt beläuft sich die Kapazität in Europa auf 238 bcm. Theoretisch
hätte der Kontinent somit fast 150 bcm an überschüssiger LNG-Kapazität, ohne
Russland. Damit könnten potenzielle massive Fehlmengen bei Pipelinegas kompensiert
werden[2]. Doch auf den gesamten Jahresverlauf gesehen könnten LNG-Importe dadurch
erschwert werden, dass zu wenig Lagerkapazitäten für den Sommer vorhanden sein
könnten. Im Januar 2022 sind die Auslastungsquoten auf 80 % gestiegen, dabei
haben die hohen Gaspreise in Europa dazu geführt, dass eigentlich für Asien
bestimmte Lieferungen umgeleitet wurden. Somit ist die überschüssige Kapazität nun
auf 47 bcm gesunken (darunter 18 bcm an russischem LNG, also 65 bcm ohne russisches
LNG). Die einzige Region mit wirklich erheblicher überschüssiger Kapazität ist
Spanien, hier liegt die überschüssige Kapazität bei 70 % der Gesamtmenge. Die
Gasmärkte sind nach wie vor angespannt, und die weltweiten LNG-Verflüssigungs-
und -Frachtkapazitäten sind begrenzt. Die weltweite LNG-Verflüssigungskapazität
beträgt rund 520 bcm. Die Bereitstellung von weiteren mindestens 100 bcm für die
Versorgung von Europa wird äußerst schwierig werden. LNG-Schiffe werden erst
dann größer werden, wenn 2025 neue Kapazitäten zur Verfügung stehen, dann könnte
das Angebot um 50-75 bcm steigen. Das hängt vom zeitnahen Start von Projekten in
Kanada, Katar und Mozambik ab - und von einem russischen LNG-Projekt in der Arktis.
Mittelfristig werden mehrere zusätzliche Regasifizierungs-Infrastrukturanlagen
in Europa gebaut (beispielsweise in Deutschland und möglicherweise in Sizilien),
um größere LNG-Importmengen aufnehmen zu können. Außerdem sind zusätzliche
grenzüberschreitende Pipelines nötig, damit LNG-Schiffe ihr Gas an spanische
Häfen liefern können, von wo aus es dann quer durch Europa transportiert werden
kann.
Kann Kernenergie russisches Gas ersetzen?
Die Stromerzeugung aus Kernenergie macht rund 25 % am europäischen Strommix aus
und deckt 15 % des gesamten Energiebedarfs des Kontinents, doch zwischen den
einzelnen Ländern gibt es erhebliche Unterschiede. Beispielsweise deckt
Frankreich rund 70 % seines Strombedarfs aus Kernenergie. Dies steht im Gegensatz
zu Ländern wie Italien, das 1990 alle seine Atomkraftwerke stillgelegt hat, und
Deutschland, das seinen letzten Kernreaktor 2022 vom Netz nehmen will.
Im Kontext der Abhängigkeit von russischem Gas sehen wir, dass die Debatten über
die Stromerzeugung aus Kernkraft in Europa wieder aufgenommen werden, einerseits
zur Diversifizierung der Energiequellen und andererseits im Hinblick auf die
Vorteile für die Energiewende (minimale Treibhausgasemissionen). Länder wie
Italien und die Niederlande prüfen nun erneut die Möglichkeiten von Atomstrom.
Wir dürfen nicht vergessen, dass diese Märkte zu den wichtigsten Exportmärkten
von Gazprom gehören. In Osteuropa ist und bleibt Kernenergie eine zentrale
Technologie. Dadurch haben sich in diesen Ländern, die in der Vergangenheit
erhebliche CO2-Mengen produzierten, bereits erhebliche Verbesserungen ergeben.
Die Slowakei erwägt bereits den Bau neuer Reaktoren, und Bulgarien, die
Tschechische Republik, Ungarn, Polen und Rumänien haben bereits angedeutet,
dass sie diesem Beispiel folgen werden. Doch angesichts der sehr langen
Vorlaufzeiten neuer großer Reaktoren (mindestens zehn Jahre) und des für die
nächsten zehn Jahre prognostizierten Anstiegs der Stromnachfrage wäre ein
markanter und schneller Wandel in der Energiepolitik vonnöten, damit Kernenergie
den Übergang weg von russischem Gas unterstützen kann. In diesem Zusammenhang
ist auch die wahrscheinliche Einbeziehung von Kernenergie in die EU-Taxonomie
zu sehen.
Können erneuerbare Energien russisches Gas ersetzen?
Die wichtigste energiepolitische Auswirkung für die EU und andere europäische
Länder ist die noch stärkere Fokussierung auf den Ausbau der Infrastruktur für
erneuerbare Energien. Dies liegt nicht nur darin begründet, dass die meisten
erneuerbaren Energien inzwischen günstiger sind als fossile Brennstoffe oder
Kernenergie, sondern auch darin, dass Europa hier über immense Ressourcen
verfügt. Europa kann im Wesentlichen ausreichend zusätzliche Infrastruktur
für erneuerbare Energien installieren und die Abhängigkeit von russischen
Energieimporten vollständig eliminieren. Doch diese Bestrebungen sind mit
verschiedenen Hürden konfrontiert:
- langwierige Planungs- und Genehmigungsprozesse.
- Engpässe bei Rohstofflieferungen, insbesondere bei Solarenergie.
- Die gestiegenen Rohstoffkosten (Stahl, Solarzellen, usw.).
Schlussfolgernd lässt sich sagen, dass mit dem russischen Krieg in der Ukraine
das "Extremrisiko" der europäischen Abhängigkeit von russischem Gas ganz
deutlich zutage getreten ist. Die Anpassung an diese Situation wird nicht
leichtfallen und wird immense (und dringend benötigte) Anstrengungen der
europäischen Staaten, Unternehmen und Bürger erfordern.
Fußnoten:
1 Quelle: Bloomberg, 8. März, 2022 [link]
2 Quelle: Politico, 5. Januar 2022 [Link]
3 Quelle: Politico, 15. Dezember 2021 [Link]
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