12.10.2009
„Zukunftsausgaben statt Steuergeschenke“: DIW Berlin empfiehlt der Koalition Kurs des Maßhaltens
Köln, den 12.10.2009 (Investmentfonds.de) -
Konjunktur 2010 noch nicht auf stabilem Wachstumspfad
Ein klarer Kurs der Haushaltssanierung, mehr Ausgaben für Forschung
und Bildung, ein langfristiges Energiekonzept und eine wirksamere
Regulierung der Finanzmärkte – das sind die politischen Schwerpunkte,
die das DIW Berlin der neuen Koalition empfiehlt. „Es muss um
Zukunftsausgaben und nicht um Steuergeschenke gehen,“ sagte DIW-
Präsident Klaus F. Zimmermann. Daraus würde die ganze Gesellschaft
nachhaltigen Nutzen ziehen.
Die neue Bundesregierung solle damit die langfristigen Wachstumskräfte
stärken und die sozialen Sicherungssysteme stabil machen für den
demographischen Wandel. „Dieses Land kann es sich nicht mehr leisten,
die Talente vieler seiner Bürger zu verschwenden,“ sagte Zimmermann.
„Jugendliche ohne Schulabschluss, Migranten ohne Sprachkenntnisse,
Frauen, die wegen fehlender Kitaplätze auf ihren Beruf verzichten:
Wenn die neue Bundesregierung mehr Wachstum will, dann muss sie hier
ansetzen und hierfür Mittel freibekommen,“ so Zimmermann bei der
Vorstellung der von Experten aus allen sieben Forschungsabteilungen
des DIW Berlin entwickelten Politikempfehlungen.
Konjunkturprognose: 1,3 Prozent Wachstum 2010, aber keine Entwarnung
Parallel dazu veröffentlichte das DIW Berlin seine Herbst-
Konjunkturprognose. Demnach erwarten die Berliner Wirtschaftsforscher
für 2010 ein Wachstum von 1,3 Prozent. Trotz der Rückkehr zu positiven
Wachstumsraten: Das DIW Berlin gibt noch keine Entwarnung für die
Konjunktur. „Wir sind 2010 noch nicht auf einem robusten, stabilen
Wachstumspfad,“ sagte DIW-Konjunkturchef Christian Dreger.
Kein finanzpolitischer Handlungsspielraum
Für die neue Bundesregierung sieht das DIW Berlin praktisch keinen
finanziellen Handlungsspielraum: Steuerausfälle aufgrund des
Konjunktureinbruchs und die staatlichen Konjunkturprogramme haben
das Haushaltsdefizit und die Staatsverschuldung in die Höhe getrieben.
Vor allem aber wurden seit dem letzten Jahr zahlreiche Maßnahmen
beschlossen, die dauerhaft die öffentlichen Haushalte belasten. Die
damit verbundenen Ausgabenerhöhungen und Einnahmensenkungen gefährden,
so das DIW Berlin, die konjunkturneutrale Finanzierung der öffentlichen
Hand und reißen eine Deckungslücke von zwei bis drei Prozent des
Bruttoinlandsprodukts auf. Dies entspricht einem Haushaltsdefizit von
rund 50 bis 75 Milliarden Euro jährlich. „Die Politik muss sich einen
Weg freikämpfen, um wieder gestalten zu können. Das wird nur über eine
Erhöhung der Einnahmen und eine Verminderung der Ausgaben möglich sein“,
sagte DIW-Chef Zimmermann.
Nach Ansicht des DIW Berlin geht letztlich kein Weg an einer Erhöhung
der Mehrwertsteuer vorbei. Überdies bieten sich Möglichkeiten zur
Anhebung vermögensbezogener Steuern. Einnahmemöglichkeiten bestehen
zudem beim Stopfen von Steuerschlupflöchern. Auf der Ausgabeseite
sollten sich die Rentenzahlungen wieder strikt an der Entwicklung der
Lohnsumme bemessen; die Rentengarantie ist zurückzunehmen. Subventions-
abbau sollte kein Lippenbekenntnis bleiben.
Verfehltes Startsignal der neuen Koalition: 35 Euro, die fehlen werden
Als „verfehltes Startsignal“ bezeichnete Zimmermann in diesem
Zusammenhang die in den Koalitionsverhandlungen diskutierte Anhebung
des Kinderfreibetrags und des Kindergelds: „Am stärksten würden, wenn
es dazu käme, damit diejenigen Familien entlastet, denen es schon heute
vergleichsweise gut geht. Und dieses Geld würde fehlen, um das
Bildungsangebot zu verbessern, um so auch Kinder und Jugendliche aus
benachteiligten Familien besser zu unterstützen.“
Zuwanderung, Bildung, Arbeitsmarkt: „Es geht um die wirklichen
Selbstfinanzierungseffekte“
Langfristige Wachtumsimpulse verspricht sich das DIW Berlin vor allem
von Reformen auf den Gebieten Bildung, Zuwanderung und bei der Arbeits-
marktpolitik. In allen drei Bereichen geht es im Prinzip darum, die
Zahl hoch qualifizierter Arbeitskräfte deutlich zu erhöhen. Dabei hat
eine Verbesserung der Ausbildung einen extrem hohen Selbstfinanzierungs-
effekt – das heißt, sie zahlt sich sowohl individuell in höherem
Einkommen als auch gesellschaftlich in höherem Wachstum aus. „Statt
sich über nicht finanzierbare Steuersenkungen zu streiten, sollte sich
die Koalition auf diese Art von Selbstfinanzierungswirkung
konzentrieren,“ sagte DIW-Präsident Zimmermann.
Konkret spricht sich das DIW Berlin für die folgenden Maßnahmen aus:
Zuwanderung: Als Steuerungsinstrument für gezielte Zuwanderungen
sollte Deutschland ein kombiniertes Quoten- und Punktesystem einführen,
bei dem Qualifikation und Alter besonders zu gewichtende Zuwanderungskriterien
sind. Die Bedeutung der Thematik sollte durch ein neues Ministerium für
Integration und Zuwanderung unterstrichen werden.
Aufstockung: Eine Aufstockung der Mittel für Bildung sowie für Forschung
und Entwicklung. Bisher werden dafür knapp acht Prozent der Wirtschaftsleistung
ausgegeben – nach den Zielen deutscher und europäischer Politik sollen es
zehn Prozent sein.
Frühkindliche Bildung: In der Bildungspolitik macht sich das DIW Berlin
vor allem für eine gezielte Förderung der frühkindlichen Bildung in Kindergärten
und einen Ausbau der Ganztagsbetreuung aus. Denn nach den Erkenntnissen der
Bildungsforschung sind vor allem bei der frühkindlichen Erziehung wirksame
Ansatzpunkte für staatliches Handeln gegeben und hohe Bildungsrenditen zu
erzielen. In diesem Bereich weist Deutschland noch große Rückstände auf.
Finanzmärkte: Grundlegende Reformen stehen aus
Einen Schwerpunkt setzen die vom DIW Berlin erarbeiteten Empfehlungen an
die schwarz-gelbe Koalition auf die Regulierung der Finanzmärkte. „Am Tropf
des Staates hängend, hat der Bankensektor die unmittelbaren Turbulenzen
zwar hinter sich gelassen, grundsätzliche Reformen zur Neuordnung der
Finanzmärkte sind aber bisher in den Hintergrund geraten“, sagte Dorothea
Schäfer, Forschungsdirektorin Finanzmärkte am DIW Berlin. „Trotz dreier
Finanzmarktgipfel in Washington, London und in Pittsburgh ist es nicht
gelungen, die Reformschritte vom Ungefähren ins Konkrete zu lenken.“
Der neuen Bundesregierung empfiehlt das DIW Berlin unter anderem
folgende Maßnahmen:
Landesbanken: Eine Klärung der Aufgaben mit dem Ziel, deren Anzahl
zu vermindern.
Kreditverkauf und Verbriefung: Die Schaffung einer Zertifizierungs-
agentur für Finanzinnovationen mit Umkehr der Beweislast.
Rating: Die Etablierung einer unabhängigen öffentlichen Ratingagentur
auf europäischer Ebene – notfalls auch im Alleingang mit anderen europäischen
Partnern wie Frankreich.
Vergütung: Die Einführung von Boni-Mali-Fonds und ein stärkeres Mit-
spracherecht der Aktionäre bei Vergütung und Vergütungssystemen. Deutschland
sollte im Verbund mit der Europäischen Union bei der Umsetzung des Pittsburgh
Beschlusses eine Vorreiterrolle spielen.
Eigenkapital: Die Verpflichtung systemrelevanter Banken auf eine
flexible Kernkapitalquote von 12 bis 14 Prozent.
Aufsicht: Die Schaffung einer europäische Allfinanzaufsicht für
systemrelevante Institute unabhängig von der Europäischen Zentralbank.
Es muss vermieden werden, dass bei einer künftigen Krise der versagende
Kontrolleur zum Krisenmanager wird. Die von der neuen Bundesregierung
geplante Konzentration der deutschen Kontrolle auf die Bundesbank hält
das DIW Berlin deshalb für problematisch.
Ausstieg: Die Entwicklung von Ausstiegsszenarien aus der Stützung
privater Geldinstitute durch staatliche Garantien. Hierzu zählt auch ein
neues Insolvenzverfahren für systemrelevante Großbanken - das neue
Verfahren muss in der Lage sein, den Insolvenztatbestand festzustellen
ohne gleichzeitig die Einstellung der Geschäftstätigkeit herbeizuführen
und damit die Dominoeffekte einer großen Bankinsolvenz heraufzubeschwören.
„Über die anhaltenden Diskussionen über die Inanspruchnahme der Rettungspakete
und über die staatliche Zwangskapitalisierung der Banken scheint eines in
Vergessenheit geraten zu sein: die Ausnutzung des Gemeinwesens durch die
staatliche Stützung privater Finanzinstitute“, so DIW-Finanzmarktexpertin
Schäfer. „Wenn wir nicht die nächste große Krise riskieren wollen, müssen
wir diese Form von moral hazard dringend beenden.“
Energie, Klima, Verkehr: PKW-Maut und Laufzeitverlängerung für Kern-
kraftwerke unter Auflagen
Weiteres Schwerpunktthema der DIW-Empfehlungen ist die Energie- und Klimapolitik.
Hier spricht sich das DIW Berlin für eine Laufzeitverlängerung von sicheren
Kernkraftwerken aus – allerdings nur, wenn ein Teil der Zusatzgewinne für die
Kraftwerksbetreiber überwiegend in klimafreundliche Technologien investiert
werden. „Die Laufzeitverlängerung darf kein Freifahrtschein sein, weiterhin
ohne langfristiges Energiekonzept weiter vor sich hinzuwursteln,“ sagte
Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt. „Im
Gegenteil: Die Laufzeitverlängerung macht nur Sinn, wenn damit der Weg frei
wird, um ein klimaverträgliches Energiekonzept zu entwickeln, das bis 2050
trägt.“
In der Verkehrspolitik empfiehlt das DIW Berlin, die Steuervergünstigung bei
Diesel zu streichen. „Das ist ökologisch unsinnig und würde sofort jährliche
Steuereinnahmen in Höhe von rund sechs Milliarden bringen,“ so Claudia Kemfert.
Um stärkere Anreize für die Vermeidung von CO2-Emissionen im Verkehr zu
setzen, spricht sich das DIW Berlin außerdem für eine PKW-Maut aus.
Quelle: Investmentfonds.de