23.11.2009
ifo Standpunkt: Globaler Wandel
Köln, den 23.11.2009 (Investmentfonds.de) -
Hans-Werner Sinn, Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft,
Präsident des ifo Instituts:
Panta rhei. Alles fließt. Dieser griechische Aphorismus kommt mir oft in
den Sinn, wenn ich an die wirtschaftlichen und politischen Veränderungen
in meiner Lebenszeit denke. Bevor sie eintraten, erschienen sie als ebenso
unwahrscheinlich, wie sie im Nachhinein als selbstverständlich empfunden
wurden. Der Kommunismus fiel. Deutschland wurde wieder vereinigt. Die
Vereinigten Staaten wählten einen schwarzen Präsidenten. Und jetzt befinden
wir uns in einer Phase, in der Asien gegenüber dem Westen aufholt und die
amerikanische Vorherrschaft in Frage stellt.
Während der amerikanische Kasino-Kapitalismus zusammengebrochen ist und
Amerikas wirtschaftliche Satelliten in Europa unter der Krise leiden,
scheint China die Situation zu seinem Vorteil nutzen zu können, denn inmitten
der Krise konnte es seinen Handelsüberschuss steigern. Und mehr noch: In den
ersten vier Monaten dieses Jahres ist China zum führenden Warenexporteur der
Welt aufgestiegen und hat dabei Deutschland aus seiner Spitzenposition
verdrängt.
Es stimm zwar, dass China im Hinblick auf andere Wirtschaftsdaten immer noch
weit hinterhetrhinkt. Obwohl China 20 % der Weltbevölkerung ausmacht, liegt
sein Anteil am globalen BIP gegenwärtig bei lediglich 7 %. Auf die Vereinigten
Staaten und die Europäische Union kommen zusammen 54 % des globalen BIP,
obwohl sie nur über 12 % der Weltbevölkerung verfügen.
Doch ändern sich diese Zahlen aufgrund von Chinas überschwänglichem Wachstum
rapide. Von 1995 bis 2008 wuchs die chinesische Wirtschaft um 229 %, während
die Weltwirtschaft um 63 % wuchs, die der USA um 45 % und die der EU mit 27
Mitgliedern um nur 37 %. Es mag für China schwierig sein, jemals mit dem
Erfolg eines kleinen asiatischen Landes wie Singapur gleichzuziehen, das die
USA beim BIP pro Kopf, gemessen an der Kaufkraftparität, bereits überholt hat.
Dennoch wird China auf absehbare Zeit zweifellos die größte Wirtschaftsmacht
der Welt werden. Um diese Führungsposition zu erlangen, braucht es weniger
als ein Viertel des BIP pro Kopf der USA, denn seine Bevölkerung ist mehr als
viermal so groß.
Die Kräfte der Globalisierung, die durch den Fall des Kommunismus befreit
wurden, haben eine bessere Welt geschaffen, in der die Länder sich aufeinander
zu bewegen und die Ungleichheit schrumpft.. Der Anteil der Menschen, die unter
der Armutsgrenze der Weltbank leben, die bei 1,25 Dollar pro Tag liegt, sank
von 52 % im Jahre 1981 auf nur 25 % im Jahr 2005. Über 50 % der Weltbevölkerung
werden heute schon zur Mittelschicht gezählt, denn ihr Lebensstandard liegt
über dem Durchschnitt der Armutsgrenzen der Industrieländer (8,2 Dollar zu den
KKP-Preisen von 1996). Zudem fiel der weltweite Gini-Koeffizient, der die
Ungleichheit zwischen den Ländern misst, von 1980 bis 2007 von 0,653 auf 0,556,
was großenteils auf die erstaunliche Leistung der Schwellenländer zurück-
zuführen ist, allen voran Chinas und Indiens.
Die Entwicklung der Welt geht jedoch nicht ohne Probleme vonstatten. Die
Kohlendioxidemissionen steigen rasch, die Ressourcen an fossilen Brennstoffen
erschöpfen sich schnell, und die Erderwärmung beschleunigt sich. Selbst wenn
die USA das Kioto-Protokoll unter Präsident Barack Obama annehmen, wird die
Temperatur der Welt in den nächsten 30 Jahren den Rekord der letzten 800 000
Jahre brechen.
Auch die Massenwanderung von Menschen aus den Entwicklungsländern in die
OECD-Länder ist nicht frei von Problemen. Sie ist eine Herausforderung für
die Assimilationskraft der OECD-Länder und entzieht den Entwicklungsländern
die gebildeten Arbeitskräfte. Etwa 13% der Bevölkerung der USA und Deutschlands
sind im Ausland geboren, ebenso 8 % der Einwohner Frankreichs und 10 % der
Bevölkerung Großbritanniens. Ungelernte Migranten tendieren dazu, nach Europa
zu kommen, wo sie den Sozialstaat belasten, und gelernte Migranten werden in
die USA gelockt, obwohl sie zu Hause dringend gebraucht werden. Der Brain Drain
ist nicht nur für Südamerika westlich der Anden und viele afrikanische Länder,
allen voran Südafrika, ein Problem, sondern auch für die Türkei, Italien,
Großbritannien, die Balkanländer, Deutschland und Finnland.
Die Abwanderung aus den Entwicklungsländern ist das Spiegelbild eines Problems,
das im Zentrum der aktuellen Finanzkrise steht: Das international mobile Kapital
floss in die falsche Richtung, von den Entwicklungsländern in die USA. In den
letzten Jahren haben die USA die Hälfte der Kapitalexporte der Welt aufgesogen,
während China ein Fünftel der Gesamtsumme bereitstellte. Allein im Jahr 2007
importierten die USA die gigantische Summe von 790 Milliarden Dollar an Kapital,
nur wenig mehr als die 714 Milliarden Dollar Kapital, die gleichzeitig von den
Schwellen- und Entwicklungsländern exportiert wurden.
Die Umkehrung der Kapitalströme ermöglichte es den US-Haushalten, das Sparen
einzustellen und im Überfluss zu leben. Sie stellte die gängige Meinung auf den
Kopf, dass das Kapital von den reichen in die armen Länder fließen sollte, weil
es dort produktiver investiert werden kann. Aber diese Entwicklung kommt nun an
ihr Ende. Da die Welt die USA nicht mehr weiter mit Waren im Austausch für
dubiose Finanztitel versorgen wird, müssen die Amerikaner ihre Traumwelt
verlassen. Sie müssen ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben für längere Zeit
aufgeben, länger auf jeden Fall, als der nächste Wirtschaftsboom dauern wird,
denn die strukturellen Veränderungen, die die amerikanische Wirtschaft durchstehen
muss, bis sich die Außenhandelssituation normalisiert hat, werden langwierig und
nachhaltig sein.
Die größte Herausforderung der Welt besteht in den nächsten Jahrzehnten darin,
den Frieden zu wahren. Die Veränderung der wirtschaftlichen Potenz verlangt
entsprechende Änderungen in den politischen Machtstrukturen, doch werden die USA
diesen Veränderungen nur zögerlich zustimmen und ihre Vorrangstellung zu halten
versuchen. Die Situation ähnelt dem Europa des neunzehnten Jahrhundert, als
Deutschlands wirtschaftlicher Erfolg eine Herausforderung für die britische
Weltherrschaft darstellte. Die aus dem Missverhältnis zwischen politischen und
wirtschaftlichen Machtverhältnissen entstehenden Spannungen führten zu einem
zweiten Dreißigjährigen Krieg, der die westliche Zivilisation an den Rand des
Untergangs brachte. Man kann nur hoffen, dass die politischen Machthaber, die
den Verlauf des einundzwanzigsten Jahrhunderts prägen, klug genug sein werden,
einen solchen Ausgang zu verhindern.
Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts
Quelle: Investmentfonds.de